Aufsprengen.
Selten hat mich in der letzten Zeit eine Arbeit so bewegt wie die fotografische Begleitung des Theaterprojekts „Klicken Sie hier für leichte Sprache“.
Vieles war neu für mich – z.B. bei einer freien Produktion zwischen Tanz und Schauspiel zu fotografieren, bei der erst im Lauf der Proben das Stück wächst und sich ausformt. Mich während der Generalprobe selbst nach Herzenslust auf der Theaterbühne bewegen zu dürfen und mir die Blickwinkel frei aussuchen zu können. Anfänglich vier, später aufgrund einer Erkrankung nur noch drei komplett unterschiedliche Schauspielerinnen und Tänzerinnen, allesamt ungewöhnliche, expressive, wendige, stets auf's Neue überraschende Persönlichkeiten, im Auge zu behalten und im „richtigen“ Moment auf den Auslöser zu drücken.
Meine erste Begegnung war eine Probe ganz am Anfang. Ich kam dazu, als noch das Warm-Up lief.
In Zweierkombinationen beobachteten sich die Frauen gegenseitig bei ihren Bewegungen, griffen dann nach einem Wechsel Beobachtetes auf und übernahmen dies in ihre eigenen Bewegungen.
Die erste Szene, die geprobt wurde, war eine wilde Tanzsession zu harten Technobeats mit Luftsprüngen und wedelnden Armen, sogar der E-Rolli der einen Schauspielerin wackelte im Takt. Ich stand
in einem taghellen, riesigen kahlen Proberaum und beobachtete vier Frauen dabei, wie sie sich in einer engen, dunklen und stickigen Disko austobten.
Dann ging es offenbar ans Auswählen von Texten und Requisiten. Für mich seltsame Stichworte (Ziege, Tasche, Sphinx, „das bin ich“, „was für eine widerliche Scheiß-Performance!“) wurden auf A4 Bögen geschrieben und als Textanker auf den Boden gelegt. Ergänzend kamen rätselhafte Requisiten dazu – u.a. ein langer Bürstenwurm, eine runde Scheibe Schleifpapier, ein Stück neongrünes, um die Ecke gebogenes Stück Plexiglas. Zum Schluss war der ganze Boden im großen Saal komplett übersät mit Gegenständen und Papierblättern und ich konnte mir nicht im geringsten vorstellen, was daraus mal werden würde. Mit der Kamera in der Hand versuchte ich, dem sich von Minute zu Minute wandelnden Geschehen bildlich noch irgendwie hinterher zu kommen, während eine Schauspielerin lässig mit ihrem Rollstuhl dazwischen herumkurvte.
Alles muss ja in einem einzigen Augenblick passieren – beobachten, entscheiden, was davon ich fotografieren will, hinrennen, um einen guten Bildwinkel zu haben, dabei die Probe nicht stören. Ich war fasziniert und gleichzeitig in meinen bisherigen Sehgewohnheiten überfordert von diesem Kosmos, bei dem unterschiedlichste Aspekte – Tanz, Sprache, Requisite, Musik – miteinander und gleichzeitig Platz fanden.
Ohne, dass ich es wusste, erlebte ich gerade etwas, was auch in einem der zentralen Texte des Stücks beschrieben wird: wie sich nämlich in einem Gefäß (z.B. einer Tasche oder einem Text, hier einer Probe) verschiedene Gegenstände (auch Gedanken, hier: auch Bewegungen) nicht linear oder hierarchisch geordnet, sondern in einem mehrdimensionalen Nebeneinander befinden können - und was für Geschichten sich dann aus solchen „Wundertüten“ hervorzaubern lassen.
Um für die „eigentlichen Aufnahmen“ während der Generalprobe möglichst gut auf das Bühnengeschehen vorbereitet zu sein, sah ich mir die Durchlaufprobe am Tag davor an. Aus den mir unverständlichen Fragmenten war ein eigensinniges Gesamtes erwachsen, schillernd, überraschend und wendig in Gedanken, Bewegungen, Farben und Formen.
Schon während der Fotoaufnahmen, aber vor allem, als ich mir dann als Zuschauerin die Premiere ansah, gab es außer der Faszination für diese kreativen Entstehungsprozesse und die beteiligten Künstler*innen noch etwas anderes, was mich berührt hat.
Der Text über die „Tasche“, der schon auf einem der ersten Bodenanker während der frühen Probe aufgetaucht war, zieht sich in mehreren Etappen durch das Stück. Die Erzählung auf der Bühne greift u.a. zurück einen Essay von Ursula Le Guin (s.u.), bei dem es um unterschiedliche Formen des Erzählens geht – klassisch, also linear mit Anfang, Höhepunkt und Schluss und einem Helden versus komplex, prozesshaft, vielfältig, vielstimmig, überraschend – mit Raum auch für Uneindeutigkeiten und gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedenster Protagonist*innen (seien es Lebewesen, Gegenstände oder auch Nicht-Stoffliches).
Eine andere Schauspielerin wütet auf der Bühne gegen den Hang, immer alles zusammenzufassen und verwehrt sich dagegen, einen Gedanken zu „haben“, als ob man ihn besitzen und mit nach Hause nehmen
könnte. Dem setzt sie das Sich-Bewegen und Atmen in den Gedanken entgegen – und das Aufsprengen.
Die dritte Schauspielerin tobt in einer Szene dagegen an, wie Tanz und Bewegung häufig auf etwas reduziert werden, was feste Formen haben muss und was man als Kulturdarbietung einfach nur
konsumiert, statt die darin innewohnende Möglichkeit zu nutzen, Bewegungsmuster aufzubrechen, und sich neue anzueignen.
Ich fühle mich erkannt im Hang zur Zusammenfassung (die ich zu schnell mit Klarheit gleichsetze), ich erkenne mich in der Sehnsucht nach einer linearen, geraden Erzählung (weil mich Unordnung,
Unüberschaubarkeit und Mehrdeutigkeit schnell verunsichern). Und ich erkenne mich im Bild der Tänzerin, die in den angestammten Bewegungen verbleibt, weil ich oft zu faul und fantasielos
bin.
Trotz seiner Vehemenz hat mich das Stück jedoch nicht mit dem Gefühl hinterlassen, kritisiert oder vorgeführt worden zu sein. Vielmehr hat die wilde Energie mich ermutigt.
Mich begleitet seither das verheißungsvolle Bild der Tasche, in der so vieles gleichzeitig Platz haben kann - und bei der man nicht einmal immer genau weiß, was sich gerade noch alles darin befindet. Ich denke oft an die Einladung, den Geist in Gedanken spazieren gehen zu lassen und die Ermutigung, neue Bewegungen aller Art auszuprobieren, um mich nicht zu begrenzen, nicht begrenzen zu lassen – und auch umgekehrt andere nicht zu begrenzen.
Aufsprengen.
Die Autorin Ursula Le Guin (1929 - 2018) hat u.a. eine Reihe ungewöhnlicher Phantastischer Romane geschrieben, in deren Weiten sie u.a. andere Möglichkeiten von Geschlechtlichkeit und sozialem Miteinander, also auch soziale Utopien entwirft.
In ihrem Essay Die Tragetaschentheorie des Erzählens, der auch im obigen Stück auftaucht, verweist sie darauf, dass eine der ersten Kulturleistungen die Herstellung von Behältnissen wie Beuteln gewesen sein muss, da es erst dadurch möglich wurde, größere Mengen von Samen und Früchten, die mühselig gesammelt wurden, transportieren zu können - und auch um die Arme frei zu haben, wenn Kinder beim Sammeln dabei waren:
„Gleich alt, wenn nicht älter als das Werkzeug, das Energie in den Raum schleudert [gemeint ist der Speer zum Jagen], ist das Werkzeug, das Energie nach Hause bringt. […]
Diese Theorie […] erdet mich auch ganz persönlich auf eine mir bislang unbekannte Weise in der menschlichen Kultur.
Solange mir Kultur als etwas vermittelt wurde, das sich aus der Verwendung langer, harter Objekte, mit denen sich stechen, hauen und töten lässt, begründete und weiterentwickelte, hatte ich
nie das Gefühl, dass ich besonders viel damit zu tun hätte oder haben wollte. […] Das von diesen Theoretikern vorausgesetzte Verständnis von Gesellschaft, von Zivilisation war offenkundig ihr
eigenes, sie besaßen es, und es gefiel ihnen; sie waren Menschen, mustergültige Menschen, die hauten, stießen, stachen, töteten. Da ich auch ein Mensch sein wollte, suchte ich nach Belegen für
meine Menschlichkeit; doch wenn eine dadurch zum Menschen wird, dass sie eine Waffe baut, um damit zu töten, dann war ich entweder ein nachweislich völlig mangelhaftes Menschenwesen oder aber
überhaupt kein Mensch.“
Ein wichtiger Teil der menschlichen Entwicklungsgeschichte bleibt Le Guins Meinung nach also unerzählt bzw. wenig erzählt - was dominiert, sind die Berichte über die Jäger, die erlegen und töten. Diese Dominanz findet sich für sie als Struktur auch in den klassischen, linear erzählten Heldengeschichten wieder – es gibt Anfang, Höhepunkt und Finale, der Held muss seinen Konflikt erfolgreich bestehen. Dem stellt sie eine andere Form des Erzählens gegenüber:
„Wird das Erzählen […] in der Tradition von Tragetasche/Bauch/Schachtel/Haus/Medizinbündel betrachtet, dann können Konflikt, Wettbewerb, Stress, Ringen etc. als notwendige Elemente eines großen Ganzen betrachtet werden, das sich nicht einfach entweder als Konflikt oder als Harmonie beschreiben lässt, da sein Zweck weder Auflösung noch Stagnation, sondern schlicht der Prozess an sich ist. Nun wird auch endlich deutlich, dass der Held in diesem Beutel kein gutes Bild abgibt. Er braucht eine Bühne oder ein Podest oder einen Gipfel. Wenn er in einen Beutel gesteckt wird, sieht er aus wie ein Kaninchen oder eine Kartoffel.“ Und später: […] jede ernstzunehmende erzählende Literatur […] [ist] ein Versuch, das zu beschreiben, was tatsächlich vorgeht, was Leute tatsächlich tun und fühlen, wie Menschen sich zu allem anderen in diesem riesigen Sack Befindlichen in Beziehung setzen, zu diesem Bauch des Universums, zu diesem Schoß des Künftigen und diesem Grab des Einstigen, dieser unendlichen Geschichte. In ihr […] ist Welt genug, um sogar dem Menschen seinen zugehörigen Platz zuzuweisen, seinen Platz in der Ordnung der Dinge [...].“
Ursula K. Le Guin, Die Tragetaschentheorie des Erzählens, in „Am Anfang war der Beutel“, Hrsg. Von Matthias Fersterer, Verlag: thinkOya, 2023