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Verdichtung

Zifferblatt einer alten mechanischen Wanduhr. In der Mitte sieht man das Schlüsselloch zum Aufziehen des Uhrwerks. Durch diese Öffnung fällt von hinten die Sonne in die Uhr und malt gleichzeitig vorn einen Lichtfleck auf das Zifferblatt.
Zifferblatt einer alten mechanischen Wanduhr. In der Mitte sieht man das Schlüsselloch zum Aufziehen des Uhrwerks. Durch diese Öffnung fällt von hinten die Sonne in die Uhr und malt gleichzeitig vorn einen Lichtfleck auf das Zifferblatt.

Verdichtung.

Im Sommer diesen Jahres habe ich den zweiten Durchlauf für mein Fotoprojekt fotografiert.
Anders als beim ersten Termin kannte ich diesmal fast keine der beteiligten Personen.

 

Ich empfinde die Situation, wenn sich fremde Menschen für mich (und natürlich auch für sich selbst) darauf einlassen, vor meiner Kamera zu sitzen und die Augen zu schließen, immer als einen ganz zarten, gleichzeitig verdichteten Moment.

 Für mich läuft dann die Zeit in mehreren Geschwindigkeiten gleichzeitig.

Einerseits passiert ganz viel, meine Anweisung, die Augen zu schließen, schickt die Person vor der Kamera in ihren Innenraum, das Gesicht verändert sich innerhalb von Sekunden radikal.

Gleichzeitig dauert der gesamte Vorgang des Fotografierens mit seinen drei „Stationen“ (Augen zu, Augen geschlossenen lassen und an etwas angenehmes denken, auf 1-2-3 die Augen wieder öffnen) nur wenige Minuten. Ich arbeite dafür mit einem immer gleichen, festgelegten Aufbau, deshalb muss ich höchstens die Höhe und Ausrichtung der Kamera auf dem Stativ geringfügig nachjustieren.

 

Nach dem Fotografieren schaue ich mir mit den Menschen am Computer die Fotos an, immer gibt es eine Reaktion darauf, sich selbst so zu sehen.
Und dann beginnt der spannende zweite Teil.

 

Ich fotografiere in der Regel als Dankeschön für die Teilnehmenden anschließend noch eine kleine Portrait-Serie nach ihren Wünschen.

Einige wenige haben klare Vorstellungen, wie ich sie fotografieren soll, z.B. weil sie das Bild für einen bestimmten Zweck nutzen wollen.
Diesmal war auch eine Person dabei, die merklich als professioneller Bühnenmensch das posieren für Foto und Film gewohnt war.

Für viele der Menschen war es aber eher eine neue, ungewohnte und manchmal auch verunsichernde Situation, für Portraits vor der Kamera zu stehen.

 

Noch bevor ich damals meine ersten Fotos für mein immer noch fortlaufendes Projekt gemacht hatte, habe ich den Zeitraum pro Person auf eine Stunde festgelegt und bin seither stur dabei geblieben. Darüber war ich auch jetzt wieder sehr froh. Nach den Aufnahmen für mein Projekt blieb so immer eine entspannte Zeitspanne, um für die Portraits gemeinsam zu experimentieren und anschließend zusammen Bilder auszusuchen.

 

Mit einigen dieser eigentlich ja ganz fremden Menschen haben sich kurze, intensive und sehr persönliche Gespräche entwickelt - über den Umgang mit Fotos in sozialen Medien, über Glaubenserlebnisse, über den Umgang mit verschiedenen Körperlichkeiten, über verwickelte Familiengeschichten, übers Älterwerden, über Ängste, über Werte. Manchmal war es ganz still, manchmal gab es lautes Gelächter zusammen.

Zwei Personen haben mir z.B. erzählt, dass sie erst seit kurzem eine Chemo hinter sich haben, bei der sie ihre Haare verloren hatten.
Diese Menschen haben mein Fotoprojekt als Erfahrungsraum für eigene Auseinandersetzungen genutzt, obwohl sie mich vorher gar nicht kannten.
Das erfordert Mut: große, hochaufgelöste Fotos von sich selbst auf einem Monitor anzusehen, ist immer unerbittliche Konfrontation.

Dazu kommt. dass ich bei meinem Projekt auch noch mit einem Licht arbeite, was jede winzige Falte bis in die kleinsten Strukturen messerscharf zeigt.


Mehrere Menschen hatten mir vorab gesagt, sie fühlten sich vor der Kamera grundsätzlich unwohl und mögen sich auf Fotos nicht.
Ihre Entscheidung, am Fotoprojekt teilzunehmen begründeten sie damit, dass es sich machbar anfühle, dass sie sich ja einfach nur mit geschlossenen Augen vor die Kamera setzen müssen.

Das hat mir deutlich gemacht, wie unterschiedlich es ist, was Menschen vor der Kamera herausfordernd finden:
Ich selbst bin tendenziell eher ein Kontrollfreak, mir würde es schwerfallen, bei einer wildfremden Person vor der Kamera die Augen zu schließen.
Lieber möchte ich immer ganz genau beobachten können, was der Mensch mit der Kamera gerade anstellt. Umso mehr bin ich deshalb jedes Mal auf's neue erstaunt und glücklich, dass es so viele Menschen gibt, die bereit sind, sich für mein Projekt mit geschlossenen Augen fotografieren zu lassen.

 

Dass für alle Teilnehmenden genügend Zeit eingeplant ist, hat es oft möglich gemacht, dass auch bei den kamerascheuen Menschen tatsächlich immer ein paar Bilder entstanden, die ihnen gefielen.
Wenn mir jemand sagt, "auf dem Bild mag ich mich" ist das für mich in der Begegnung während der Fotosession das größte Geschenk.
Erst zu Hause sichte ich dann ja in Ruhe all meine "Schätze" - und immer kommt mit dieser kleinen Verspätung die große Freude über die tollen neuen Bilder, die Begeisterung über all diese einzigartigen Gesichter für mein Projekt.

 

Nach der eigentümlich intensiven Begegnung beim Fototermin laufen dann die Zeitstränge von mir und den Menschen, die sich für mich vor die Kamera gesetzt hatten, wieder auseinander. Es gibt immer einen kurzen Nachkontakt, wenn ich die Portraits fertig bearbeitet habe und ihnen übermittele. Manchmal frage ich, ob ich ihr Portrait auf meiner Webseite nutzen darf. Dann driften wir wieder auseinander nach dieser kurzen Verdichtung und gegenseitigen Berührung.

 

Dieses Mal habe ich die Fotos für mein Projekt erst viele Wochen nach den Aufnahmen fertig bearbeitet und auf die Webseite gesetzt.
Bei jeder Person hat das bei mir noch mal einen kleinen Nachhall und Erinnerungen an die kurze direkte Begegnung ausgelöst – und Dankbarkeit für all die Gedankenanstöße, Ideen, Inspirationen, die mir die Menschen in diesen Momenten geschenkt haben.