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Mit geschlossenen Augen

Ausschnitt aus einem Gesicht, man sieht die geschlossenen Augen und die Nase. Das Foto ist schwarz weiß. Die Person auf dem Bild hat schon Fältchen um die Augen und trägt einen Nasenring.

Mit geschlossenen Augen.

Anfang 2024 begann ich mein fortlaufendes Fotoprojekt "Mit geschlossenen Augen".

 

Für mich es es das erste Mal, ein Portrait-Projekt zu realisieren, was einer philosophischen und künstlerischen Idee folgt und nicht etwas bereits Vorhandenes - wie eine Person, einen Beruf, eine Tätigkeit - dokumentiert.

 

Ein früheres Foto-Projekt von mir mit tanzenden und streitenden Stühlen folgte zwar auch ausschließlich einem spielerischen Gedanken (was passiert, wenn ich zwei Stühle wie zwei Individuen aufeinander loslasse, was können die alles miteinander anstellen), aber es waren keine anderen Menschen involviert.

 

Auf die Idee, Menschen mit geschlossenen Augen zu fotografieren, bin ich gewissermaßen aus unterschiedlichen Richtungen zugleich gekommen.

 

Als ich noch angestellt als Fotografin gearbeitet habe, war ich oft mit Menschen, die sehr angestrengt und gestresst waren, im Studio.
Meist brauchten sie Business- oder Bewerbungsfotos, auf denen sie natürlich sympathisch, souverän und kompetent aussehen sollten.
Ein großer Teil der Anspannung kam oft daher, dass diese Menschen verzweifelt versuchten, freundlich in die Kamera zu lächeln und dabei immer mehr verkrampften. Manchmal habe ich dann zwischen drin einen Break gesetzt und gesagt, sie sollen mal durchatmen, die Augen kurz zu machen und dann mal gar nicht freundlich zu mir schauen. Ich habe die Leute dann oft gebeten, einfach "nur" in Konzentration und Fokus zu gehen beim Blick zu mir. In kleinen Schritten, in diese Konzentration ein bisschen mehr Freundlichkeit zu geben, aber dennoch bei sich und im Fokus zu bleiben, gelang es dann manchmal, Fotos zu schaffen, auf denen tatsächlich Kraft, Energie und Freundlichkeit gleichzeitig zu sehen waren.
Für mich als Fotografin ist auf den meisten Bildern sofort erkennbar, ob ein Mensch von innen heraus lächelt - weil die Person tatsächlich gerade in einem Gefühl von Freundlichkeit/Gewogenheit/Sympathie istOft ist nur der Mund für die Kamera zu einem Lächeln verzogen, aber die Person eigentlich nicht wirklich anwesend und greifbar auf dem Bild.
Das hat mir gezeigt, wie sehr wir darauf trainiert sind, der Kamera immer ein Lächeln zu zeigen. Und wir haben auch alle gelernt, Bilder, auf denen ein Mensch lächelt, schöner zu finden als solche, wo das Gesicht ernst ist. Mit dieser Erwartung wollte ich spielen.

 

Dann kenne ich als Fotografin auch den großen Stress, den viele Menschen beim Fotografiert-Werden damit haben, dass sie oft ("immer") die Augen zu machen, wenn der Auslöser gedrückt wird (und im Studio der Blitz losgeht). Mir wurde in der Ausbildung gesagt, der Blitz sei schneller als das menschliche Auge. Meine Praxis hat mich gelehrt, dass Menschen schneller als der Blitz sein können.
Die Gründe dafür sind vermutlich vielfältig - Stress vor der Kamera, die Erwartung, dass gleich was kommt, vielleicht auch das Wahrnehmen einer winzigen Bewegung von mir, der Fotografin. Ich bin auch davon überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die einfach sehr sensitiv und feinfühlig sind und den nahenden Auslöser und ggf. Blitz wahrnehmen.

In einem regulären Foto-Setting wie z.B. Portrait-Shootings ist das Bild mit den geschlossenen Augen also immer der Ausschuss, das was nicht gewünscht ist, nicht passieren sollte. Auch damit mal zu spielen, hat mich gereizt.

 

Geschlossene Augen kennen wir aus privaten Kontexten. Menschen schließen in unserer Anwesenheit die Augen, wenn sie sich entspannen (wollen), wenn sie total genervt sind, wenn sie müde sind, wenn sie schlafen.

 

Wir verbinden geschlossene Augen mit den Themen Schlaf oder sogar Tod.

 

Mich interessiert auch der vermeintliche Widerspruch, dass Menschen sich fotografieren lassen, aber sich gleichzeitig entziehen, indem sie die Augen schließen. Wenn ich keinen Augenkontakt aufnehmen kann, bin ich als Betrachterin auf mich zurück geworfen. Wenn der Mensch vor der Kamera auch noch das Gesicht los lässt, bei sich ist, kann ich auch die Mimik nicht mehr als Anhaltspunkt nehmen und auslesen.

 

Die Augen schließen zu dürfen, kann ermöglichen, sich einen Moment zu entspannen, zu sich, also mit der Aufmerksamkeit nach innen zu gehen.
Die geschlossenen Augen unterbrechen den Regelkontakt. Für einen Moment wird innegehalten, die Zeit in der Kommunikation steht kurz still.

Wenn wir ein Gesicht mit geschlossenen Augen sehen, insbesondere das einer älteren Person mit schon mehr sichtbaren Lebensmarkierungen, interpretieren wir dieses Gesicht schnell als traurig, müde, unfreundlich o.ä., weil ein ähnlicher Gesichtsausdruck mit offenen Augen vielleicht tatsächlich eine solche Bedeutung hätte.

 

Diese Ruhe, die Pause, das Loslassen des Gesichts - das empfinde ich als bewegend, intim und intensiv.
Das Gesicht mit den geschlossenen Augen hat etwas Existenzielles, grundlegend Menschliches, was mich berührt.

Menschen, die nichts tun, um mir und der Kamera zu gefallen, Menschen, die in das Vertrauen gehen, mich ohne eigene Blickkontrolle fotografieren zu lassen, Menschen, die sich einen Moment in ihrer Verletzlichkeit ausliefern in unsere Verbindung - ihre Gesichter erlebe ich als echt und stark.

Menschen, die sich mit (geschlossenen Augen) zeigen, wie sie sind, das ist für mich radikale Schönheit.